Glossarsuche
Schlagwort: | Verstehen |
Beschreibung: | In der Literaturwissenschaft bezeichnet ‚Verstehen’ (1) den Prozess, in dem die Bedeutung vor allem literarischer Texte oder ihrer Bestandteile ermittelt wird; (2) zudem wird ‚Verstehen’ auch im Sinne von ‚Verständnis’, also als Bezeichnung für das Ergebnis dieses Prozesses verwendet. (1) Theoretische Modelle des Textverstehens versuchen, die Verlaufsformen, Komponenten oder Funktionen von Verstehensprozessen abzubilden und zu erklären. Einer verbreiteten Auffassung zufolge setzt sich das Textverstehen aus zwei Typen von Prozessen zusammen, die ineinander greifen: In ‚bottom up’-Prozessen nehmen Leser Informationen aus einem Text auf, in ‚top-down’-Prozessen bringen Leser ihre kognitiven, emotionalen und motivationalen Bedingungen (Wissen, Schemata, situative Faktoren etc.) in den Verstehensprozess ein. Verstehen ist mithin ein höchst komplexer, dynamischer Vorgang, in dem Leser Bedeutung nicht einfach einem Text entnehmen, sondern sie textinduziert konstruieren. In Bezug auf Literatur kann das Textverstehen z.B. darin gesehen werden, dass Leser aus den expliziten und impliziten Relationen eines Textes Kohärenz erzeugen und in ihrer Vorstellung ein Modell der ‚Welt im Text’ herstellen. Obwohl komplex, verläuft dieser Prozess unbewusst bzw. unwillkürlich. Weitergehend kann zum Verstehen auch das Erzeugen von Annahmen eines anderen Typs gerechnet werden, z.B. welche symbolische Bedeutung bestimmten Informationen im literarischen Text (z.B. Bilder oder Figuren) zukomme. Ob diese voraussetzungsreicheren Prozesse zum Textverstehen oder eher zur stärker theoriegeleiteten Interpretation zählen, ist jedoch umstritten. (2) Zwar wird mit der Aussage, jemand habe etwas verstanden, normalerweise das Ziel bzw. der Endpunkt eines Verstehensprozesses markiert; jedoch wird in der Literaturwissenschaft recht Unterschiedliches mit diesem ‚Verstandenhaben’ bezeichnet. Das Spektrum reicht von der subjektiven Überzeugung eines Lesers, einen literarischen Text verstanden zu haben, bis zu normativen Positionen, die postulieren, es gebe verschieden Grade der Angemessenheit des Verstehens. Welche Leistungen ein Leser zu erbringen hat, um einen Text ‚angemessen’ zu verstehen, wird von der jeweiligen Theorie vorgegeben (vgl. z.B. Hermeneutik, [[keywordid:26387:Rezeptionsästhetik]]). In der Literaturwissenschaft sind Theorien des Verstehens literarischer Texte insbesondere im Rahmen der Hermeneutik, der Rezeptionsästhetik, der Empirischen Literaturwissenschaft und Leserpsychologie sowie der Cognitive Poetics entwickelt worden; sie alle haben Auswirkungen auf das Konzept der Interpretation literarischer Texte. |